Über jüdische Einheit und Antisemitismus – Artikel Nr. 4
Aufstieg und Fall des ersten Tempels
Im vorhergehenden Artikel haben wir die Bildung Israels zu einer Nation beschrieben und wie ihnen die Aufgabe übertragen wurde, „ein Licht für die Völker“ zu sein, indem sie zu einem Modell der Einheit jenseits aller Gegensätze wurden. Dieser Artikel befasst sich zum ersten Mal mit Israels Versuchen, seine Einheit nach der Gründung einer Nation aufrechtzuerhalten, mit seinem Scheitern und den daraus resultierenden Konsequenzen.
Nachdem sie eine Nation geworden waren – indem sie gelobten, sich „wie ein Mann mit einem Herzen“ zu vereinen – machte sich das Volk Israel auf den Weg nach Kanaan. Auf dem Weg dorthin hatte es sowohl zahlreiche innere Konflikte als auch Kämpfe mit äußeren Feinden zu bestehen. Ihr wachsendes Ego forderte sie immer wieder auf neue Weise heraus, und sie mussten neue Taktiken finden, um es zu überwinden. Im Buch Zohar (BeShalach, Punkt 252) steht jedoch geschrieben: „Jeder, der in der Tora einen Krieg führt, wird am Ende mit höherem Frieden belohnt“. Mit anderen Worten: In den Kriegen, die das Volk Israel führte, ging es darum, das Gelübde der vollständigen Einheit einzuhalten.
Doch bald nachdem Israel Kanaan erobert und zum Land Israel gemacht hatte, wuchsen die Streitigkeiten so sehr an, dass sich die Nation in zwei Königreiche teilte: das nördliche Königreich (Israel) und das südliche Königreich (Judäa). Das Nordreich war geistig schwächer, und sein Volk gab seine Verpflichtung zur Einheit schnell auf. Der Talmud (Yoma 9b) beschreibt die Böswilligkeit, mit der die Führer des Königreichs Israel einander begegneten, sehr eindringlich: „Rabbi Elazar sagte: ‚Jene Menschen, die miteinander essen und trinken, stechen sich gegenseitig mit den Schwertern in ihre Zunge. So waren sie, obwohl sie einander nahe standen, von gegenseitigem Hass erfüllt“. Angesichts solcher Beziehungen dauerte es nicht lange, bis sich das Königreich Israel bis zum heutigen Tag in Finsternis auflöste.
Auch in Judäa verhielten sich unsere Vorfahren nicht viel besser als ihre jetzt entschwundenen Verwandten. Der aus dem 1. Jahrhundert stammende jüdisch-römische Historiker Titus Flavius Josephus beschreibt das Fehlverhalten unserer Vorfahren im Detail. Wenngleich die Liste der Verfehlungen den Rahmen dieser Artikelserie sprengen würde, ist es wichtig zu erkennen, wie grausam der Hass der Judäer auf ihre Brüder war. Im Buch “ Die Altertümer der Juden“ (Buch IX, Kap. 5) liefert Josephus einige grausame Details über die schmutzige Art und Weise, in der die Könige Israels miteinander umgingen. Über die Salbung von König Jehoram, der nur siebzig Jahre nach König Salomo – der lehrte, dass „Hass Streit schürt und Liebe alle Verbrechen überdeckt“ (Spr 10:12) – regierte, schreibt Josephus: „Sobald [Jehoram] die Regierung übernommen hatte, war er bereit, seine Brüder und die Freunde seines Vaters abzuschlachten.
König um König ermordeten die Herrscher von Judäa einander in einer erstaunlichen Zurschaustellung von Verderbtheit. Josephus schreibt, dass König Manasse „alle rechtschaffenen Männer, die unter den Hebräern waren, auf barbarische Weise ermordet“ habe. Und auch die Propheten wollte er nicht verschonen, denn er tötete jeden Tag einige von ihnen, bis Jerusalem von Blut überflutet war“ (Buch X, Kap. 3).
Diese Umgangsformen waren eindeutig nicht haltbar, und als der babylonische König Nebukadnezar II. in das Land Israel einmarschierte, war Judäa viel zu schwach, sich gegen ihn zu verteidigen. Obwohl uns gelehrt wird, dass Nebukadnezar Judäa eroberte und den ersten Tempel zerstörte, ist es wichtig zu erwähnen, dass unsere Weisen und alle alten Texte den Fall des Tempels nicht Nebukadnezar, sondern unseren eigenen Lastern gegeneinander zuzuschreiben.
In der Antike überwog im Übrigen die Geisteshaltung, mit dem Finger auf die eigenen Sünden als Ursache des eigenen Unglücks zu zeigen und nicht auf äußere Feinde. Dies änderte sich erst im Verlauf der letzten Jahrhunderte, als unsere Arroganz und Selbstgerechtigkeit auf ein solches Niveau anstieg, dass wir keinen Fehler in uns selbst sahen und alle unsere Probleme auf andere schoben, obwohl unsere eigenen Weisen Jahrtausende lang gegenteiliges lehrten und schrieben.
Das Exil in babylonischer Gefangenschaft war kurz, aber ereignisreich. Über die Ereignisse, die durch die Cyrus-Erklärung zur drohenden Zerstörung und schließlich zur Befreiung führten, werden wir im nächsten Artikel berichten, in dem wir einmal mehr sehen werden, dass Einheit zu Freiheit und Glück und Trennung zu Elend für unser Volk führt.
Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie in meiner neuesten Veröffentlichung „Die Wahl des Judentums“: Einheit oder Antisemitismus: Historische Fakten über Antisemitismus als Spiegel jüdischer sozialer Zwietracht.
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