Frage: Im Familienleben passiert es manchmal, dass du versuchst, eine gemeinsame Sprache zu finden und zu helfen, aber danach das Ergebnis bedauerst. Wie kann ich ein solches Feingefühl entwickeln, welches mir erlaubt, vorher zu wissen, ob meine Versuche von Nutzen sind.
Meine Antwort: Versuche aus der Liebe heraus zu handeln, ganz gerade.
Übrigens lehrt uns die integrale Erziehung genau das, und zwar wie die Wechselbeziehungen geregelt werden. Denn nur das fehlt uns, um von der jetzigen erbärmlichen Stufe zum Leben in Harmonie und Vollkommenheit aufsteigen zu können. Der Mensch entwickelt sich, um im Endeffekt alle Menschen in der Welt spüren zu können.
Die Familie ist nur die erste, die nächstliegende Etappe auf diesem Weg. Und dann, wenn der Mensch sich weiter entwickelt hat, beginnt er alle Menschen in seiner Umgebung zu spüren: wie sie leben, woraus sie bestehen, was sie denken, wie sie sich zu ihm verhalten und wie er sich zu ihnen verhält. Er „liest sie ab“, er wird zu einer Art Röntgenapparat, er sieht durch sie hindurch. Die Welt ist jetzt durchsichtig für ihn. Dadurch weiß er, wie er die Verbindung mit den Menschen herstellen kann und welche Reaktionen er auslösen soll.
Genau deswegen sprechen wir so viel über die Regelung der Familienbeziehungen. Im Grunde genommen ist das ein Sprungbrett zur Einheit mit der gesamten Umgebung und dadurch mit der ganzen Wirklichkeit. Alles kommt dank „der Feinheit der Seele“, der Schärfe der Wahrnehmung, die der Mensch aus den integralen Übungen schöpft. Genau auf diese Weise kommen wir voran. Das Einzige, was von uns verlangt wird, ist, ein solches „Auflösungsvermögen“ zu erlangen, das uns ermöglichen würde, eine höhere Dimension zu erreichen. Dann entdecken wir um uns herum eine Welt, die viel farbenprächtiger und tiefer ist, als die, die wir hier und jetzt wahrnehmen.
Wir können das nur erreichen, indem wir unsere Beziehungen mit den Nächsten üben. Zuerst erscheinen diese Übungen für mich als ein infantiles Spiel, aber das ist nicht so. Denn dadurch enthülle ich meine feinsten Gefühle und Eigenschaften, mache sie präziser und dringe durch die jetzige Welt in die höhere Dimension durch. Ich beginne Dinge zu unterscheiden, die sich über der Zeit befinden, nehme die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft als Parameter wahr, die in der Natur enthalten sind. Ich unterscheide eine Vielzahl an Erscheinungen – und das alles dank unserer „Wohnzimmerübungen“ mit dem Ehepartner, wenn wir unsere „Spiele“ bei einer Tasse Kaffee spielen.
In Wirklichkeit haben wir einfach nichts anderes mehr zu tun. Die Zeit der äußeren, mechanischen, groben Eroberung der Welt ist vorbei. Wir haben die Technologien, die Wissenschaft, die Technik und die Wirtschaft genug entwickelt. Damit ist Schluss. Der nächste Abschnitt kommt, und jetzt müssen wir die Verbindung mit der Natur und der Welt mit Hilfe der Selbstvervollkommnung herstellen.
Das Gleiche geschieht auch im Familienleben: Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir einander nicht mehr ertragen und nicht miteinander zurechtkommen können. Es geht gar nicht um gegenseitige Vorwürfe, im Grunde genommen leben wir nur wegen der Kinder zusammen. Ohne etwas Attraktives aneinander zu finden, gehen die Eheleute oft fremd, und ihr Zuhause wird zu einem „Hotelzimmer“ für sie. Einige hält das gemeinsame Geschäft zusammen. Dabei verstehen die Menschen alles sehr gut und führen oft ein sehr freies Leben, das man aber nicht als Zusammenleben bezeichnen kann.
Und so haben wir eine sehr ernste Krise in der Familie erreicht, und uns bleibt nichts anderes übrig, als uns selbst zu verbessern. Man kann ein Schloss für Eheleute bauen und es mit den besten Möbeln und modernsten Haushaltsgeräten ausstatten, nichts wird helfen. Heute wohnen „die Lebensgefährten“ ohnehin in getrennten Zimmern und haben kaum Kontakt miteinander. Jeder isst zu seiner eigenen Zeit, jeder hat seinen eigenen Schrank, seinen eigenen Computer usw.
Wir haben also keine weitere Möglichkeit, uns äußerlich zu verbessern, sowohl grundsätzlich in der Welt als auch im Familienleben. Auf dieser Ebene haben wir das ganze Potenzial erschöpft und sind nun einfach verpflichtet, eine neue Etappe einzuläuten. Es ist an der Zeit, den Menschen zu verändern, ihm neue Möglichkeiten beim Kontaktieren mit der Umgebung zu bieten, ihm beizubringen, wie gute Wechselbeziehungen über dem ganzen jetzigen „Müll“ aufgebaut werden können. Eben darin besteht das Wesen der neuen Ära, an deren Schwelle wir stehen.
Dank der Veränderungen in der Familie verändern wir auch alles andere: die Gesellschaft, die Technologien, die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Kultur, die Bildung … Doch so oder so wird das alles durch innere Veränderungen in jedem hervorgerufen, deswegen gibt es genau hier das wichtigste Problem. Wir müssen die Aufmerksamkeit von äußerlichen Veränderungen, von den Banken und der Industrie, auf den Menschen verlegen.
Und wir beginnen mit dem Punkt der Vereinigung in der Familie. Als erstes müssen wir akzeptieren, dass die Pyramide unserer Beziehungen von dem Punkt der Vereinigung gekrönt wird. Dieser Punkt befindet sich über allem. So lasst uns doch diesen Punkt mit Herz und Verstand bewahren – und ausgehend davon werden wir sehen, wie unsere ganzen Probleme unten gelöst werden können.
Wir müssen einander nicht korrigieren, etwas voneinander fordern. Es steht geschrieben: „Der Mensch helfe seinem Freund“. Nur so müssen wir handeln – indem wir dem Partner gegenüber Zugeständnisse machen und uns selbst mit Hilfe von speziellen Übungen vor ihm annullieren.
In jedem Fall darf jeder Schritt nur mit dem Punkt der Vereinigung begonnen werden. Unser ganzer Plan besteht darin, die gemeinsame Verschmelzung zu erreichen. Ohne diesen finalen Orientierungspunkt werden wir nicht auskommen können, denn „das Ende der Handlung ist im ursprünglichen Gedanken enthalten“. Wir brauchen ein reales Programm, das zum Ziel führt.
Deswegen müssen wir die Spitze der Pyramide immer vor Augen haben. Auf diese Weise verschwinden mein Partner und ich als einzelne Personen und werden zu einem Ganzen – zu einer wahren spirituellen Struktur. Dieses Ziel legen wir von Anfang an fest und klären und verstärken es dann ständig. Womit auch immer wir uns beschäftigen mögen, alles muss letztendlich dazu berufen sein, diesen Punkt zu verstärken. Er ist für uns nicht nur das Endziel, sondern auch das Ziel jeder einzelnen Handlung. Denn anderenfalls wird diese Handlung nicht richtig sein und uns nicht dem Ziel näher bringen.
Und das Ziel ist die Einheit, die Vereinigung. Wir ergänzen einander bis zu dem Punkt, an dem die besten und sogar die schlechtesten Sachen, die wir in uns und in dem anderen sehen, nicht unrealisiert bleiben. Wir stellen plötzlich fest, dass alle unsere „Vorsprünge“ und „Vertiefungen“, alle Vorzüge und Mängel dermaßen übereinstimmen, dass jeder von uns ideal in den andere reinpasst und ihn vervollständigt. In der Kabbala-Sprache wird es so definiert: Der weibliche Teil (Nukwa) und der männliche Teil (Seir Anpin) sind von Angesicht zu Angesicht in einem unentwegten Zusammenwirken in allen zehn Sefirot miteinander verschmolzen. Das heißt, dass alles Schlechte und Gute, das wir ständig enthüllen, nur zur Verstärkung dieses Punktes der Vereinigung dient. Dadurch wächst er ständig – angefangen mit einem einfachen Einvernehmen – immer mehr.
Und dann sehen wir, dass in diesem Punkt eine neue Eigenschaft geboren wird, eine neue Empfindung, die wir früher nicht hatten. Sie befindet sich dort, wo wir als Einzelne nicht mehr zu unterscheiden sind. Es wird als „Tropfen der Einheit“ bezeichnet – denn in einem Tropfen sind einzelne Teile, jene zwei Tropfen, die zu einem Tropfen geworden sind, nicht zu sehen. Genau diese Empfindung, dieser Tropfen der Lebensenergie ist die Liebe. Die Eigenschaft, das Gefühl, das wir in diesem Tropfen enthüllen, kommt nicht von dieser Welt. In ihm ertasten wir unsere Wurzel, ein gewisses höheres Schicksal, die Höhere Kraft, die uns zusammengebracht, vereinigt und zur Verschmelzung geführt hat. Das heißt: „Ein Mann und eine Frau und die Shechina zwischen ihnen“.
Das alles erfordert schwere Arbeit, und dafür ist eine breite öffentliche Unterstützung nötig. Allein können wir diese Aufgabe nicht bewältigen, wir können nicht immer wieder zu ihr zurückkehren, hartnäckig und unermüdlich. Hier brauchen wir Hilfe von der Umgebung, wir müssen sehen, dass andere es auch machen, wir müssen uns mit ihnen treffen und darüber reden.
Ja, wir sind nur Menschen, doch wir haben die Möglichkeit, den Punkt der höheren Vereinigung zu erreichen. Deswegen brauchen wir uns nicht zu schämen und uns vor den anderen zu verschließen. In der Küche und im Schlafzimmer passiert mit uns allen das Gleiche.
Anders gesagt, das „ideale“ Bild, das wir gemalt haben, krönt eine sehr schwere Arbeit, sehr komplizierte innere Schlachten. Das sind keine rosa Träume, sondern der Krieg des Menschen gegen sich selbst, das sind ständige Anstrengungen, die er unternimmt, um sich zu öffnen, dem Partner zu helfen – und das alles nur um der Vereinigung willen. Die innere Arbeit hat viele entgegengesetzte Gefühle und verschiedenartige Details. Stell dir vor, zum Beispiel, dass eine Fabrik unter deiner Leitung mit dem Herstellen eines neuen Produkts beginnt. Diese Innovation erfordert viel Kraft und Ressourcen, du musst dich mit Leib und Seele reinhängen, um alles zu analysieren, durchzudenken und richtig miteinander zu verbinden.
Kurzum, fangt an und ihr werdet sehen, dass es nicht einfach ist. Es werden sofort Fragen und Probleme entstehen: „Wie geht es weiter? Warum sind wir plötzlich stehengeblieben? Warum haben wir keine Kraft mehr?“ Hier ist wichtig, die Übungen jeden Tag fortzusetzen.
Frage: Wie wird das Leben der Eheleute, die ihr Ziel – die Vereinigung – bereits erreicht haben, aussehen?
Meine Antwort: In erster Linie sind sie ständig in Bewegung, im Prozess, bis die ganze Welt das Gleiche erreicht. Plötzlich stellen sie fest, dass sie sich in einer integralen Verbindung mit allen anderen Paaren der Welt befinden. Denn jedes Paar ist wie ein Dipol, in dem zwei Potenziale – positiv und negativ – zu einem System verbunden sind. Eine Kompassnadel ist ebenfalls ein Dipol, der sich nach der Position der magnetischen Pole dreht. So ist jedes Paar wie diese Nadel mit zwei entgegengesetzten Ladungen. Doch gemeinsam bilden die Partner eine „Bedeckung“ und werden zu einem vollwertigen einheitlichen „Modul“.
So ist die Welt geschaffen: es gibt kein Plus ohne Minus, kein Licht ohne Dunkelheit, keine Erfüllung ohne Gefäß, keinen Schöpfer ohne Geschöpfe. Das bezieht sich genauso auf die Familie.
Und dann sehne ich mich plötzlich danach, das Leben nicht nur in meiner „Zelle“, sondern in dem ganzen Körper zu spüren. Dieses Gefühl, dieses Bedürfnis kommt zu mir durch den Punkt der Vereinigung. Selbst wenn ich die Einheit und die Vollkommenheit in der Familie erreicht habe, enthüllt sich in dieser Vollkommenheit ein Mangel – es stellt sich heraus, dass es Einheit von einer höherer Qualität, eine höhere Vollkommenheit gibt. Genau dann stellt sich heraus, dass ich von der ganzen Welt abhängig bin. Alle Zellen in der Welt sind Zellen eines einzigen Körpers. Alle Dipole sind verbunden und voneinander abhängig, was bedeutet, dass ich mich nicht korrigieren und ein wahres Leben führen kann, solange die anderen nicht korrigiert sind.
Somit, wenn wir die Familie korrigiert haben, kommen wir zu den weitreichenderen Korrekturen. Die ganze Menschheit wird sich allmählich an diesen Korrekturen beteiligen, angefangen mit den einzelnen „Familienzellen“ bis hin zu den komplizierteren Systemen, „den Organen“ des gemeinsamen Körpers, bis wir die vollständige Korrektur der ganzen „Konstruktion“ erreicht haben.
Auszug aus dem 35. Gespräch über ein neues Leben, 16.07.2012
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