Gericht und Barmherzigkeit
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Frage: Was bedeutet „Gericht und Barmherzigkeit“ im Spirituellen – ist es vergleichbar mit gewöhnlicher Moral?
Antwort: Baal HaSulam schreibt, dass viele glauben, die Tora spreche über Moral – doch das ist ein gewaltiger und bitterer Irrtum.
Moral basiert lediglich auf Lebenserfahrung. Der Mensch zieht seine Lebensweisheit aus den Ereignissen, die er durchlebt hat.
Doch die Weisheit der Kabbala stützt sich in keiner Weise auf die Ereignisse unseres irdischen Lebens oder auf Erfahrungen, die wir in dieser Welt machen. Wir befolgen die Ratschläge der Kabbalisten, die uns „an den Ohren ziehen“ (das Ohr bezieht sich auf die Stufe von Bina), um uns in die Höhere Welt zu erheben.
Das bedeutet, ich lerne nicht aus den Erfahrungen meines gewöhnlichen Lebens – im Gegenteil, ich erhebe mich über dieses gesamte Leben und über all seine Erfahrungen!
Denn hier kann ich mich nur mit meinem Egoismus beschäftigen und Ratschläge erteilen, die für mein Ego vorteilhaft sind – so wie wir einem Kind beibringen: „Geh nicht zu einem bösen Hund, wenn du nicht gebissen werden willst.“ Ich kann nur sagen, was für uns nützlich ist und was uns schadet – mehr kann die Moral nicht leisten.
Aber die Weisheit der Kabbala basiert nicht auf Angst oder Bestrafung. Sie sagt, dass man seine Wünsche ändern muss, indem man sie dem Licht aussetzt.
Das heißt, sie beschäftigt sich mit unserer inneren Korrektur, nicht mit Anweisungen oder Einschüchterungen – weder durch einen bösen Hund noch durch einen strafenden Schöpfer.
Die Kabbala macht dem Menschen keine Angst und verspricht ihm auch keine Belohnung in Jenseits. Sie spielt nicht mit unserem Egoismus – sie korrigiert ihn einzig und allein durch das Licht, das zur Quelle zurückführt.
Die Verbindung von Gericht und Barmherzigkeit im Spirituellen ist das Zusammenwirken von Bina und Malchut – in dem Maß, in dem Bina sich in Malchut einfügen kann und Malchut sich in Bina integriert, um sich gegenseitig zu unterstützen.
Malchut tritt in Bina ein, das Maß des Gerichts dringt in die Barmherzigkeit ein und beschränkt sie. Das bedeutet: Soweit Malchut nicht mit Bina übereinstimmen kann, schränkt sie Bina ein. Und in dem Maß, in dem sie mit Bina übereinstimmen kann, offenbart sie Bina.
Es entsteht also eine wechselseitige Durchdringung: Bina tritt in Malchut ein und bringt ihr das Maß der Barmherzigkeit. Malchut wiederum tritt mit dem Maß des Gerichts in Bina ein und bestimmt, in welchem Umfang Bina ihr erlaubt, zu geben, zu empfangen und sich anzugleichen.
Das heißt, bei der Verbindung von Barmherzigkeit und Gericht findet die Arbeit von beiden Seiten aus statt: Der Höhere schränkt sich selbst ein und nutzt das Maß des Gerichts, obwohl er sich offenbaren und das Maß der Barmherzigkeit einsetzen möchte.
Der Untere hingegen will das Maß der Barmherzigkeit erlangen, und deshalb bringt er das Gericht in den Höheren ein und sagt: „Gib mir nichts! Ich verschließe dich!“
Oder er sagt sogar: „Du kannst dich offenbaren – ich werde trotzdem nichts von dir empfangen! Ich habe meinen eigenen Schirm und bin bereit, dich in dem Maß zu öffnen, in dem ich dir ähnlich werden kann.“
Hier gibt es weder Einschüchterung noch Moral – im Gegenteil, es herrscht völlige Freiheit der Suche und der einzig wahre freie Wille.
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(Aus einer Lektion zu Beit Shaar HaKavanot)